17/02/2023

Beton ist weltweit der am häufigsten verwendete Baustoff – und die Nachfrage wird in den nächsten Jahren weiter steigen. Damit die Baubranche ihre Netto-Null-Ziele trotzdem erreichen kann, sind neue Ideen gefragt. Sika leistet mit Zementadditiven und Betonzusatzmitteln schon heute einen wichtigen Beitrag zur CO2-Reduktion und forscht intensiv an neuen Lösungen. Im Interview erklärt Evelyne Prat, Core Technology Head Cementitious Technology, wie das Unternehmen die Innovation vorantreibt.

Evelyne Prat, Core Technology Head Cementitious Technology
Image: Evelyne Prat, Core Technology Head Cementitious Technology

Im November 2022 hat die Weltbevölkerung die 8-Milliarden-Grenze überschritten. Laut Prognosen der Vereinten Nationen wird die Zahl der Menschen in den 2080er-Jahren einen Höhepunkt erreichen – mit ungefähr 10.4 Milliarden Menschen. Mit dieser Perspektive vor Augen ist es für die Bauwirtschaft besonders anspruchsvoll, den Weg zum Netto-Null-Ziel erfolgreich zu beschreiten. Beton besteht zu circa 80 Prozent aus Gesteinskörnungen und Wasser und zu rund 15 Prozent aus Zement. Vor Jahrzehnten bestand Zement zu 95 Prozent aus Klinker. Seit damals konnte der Klinkeranteil im Zement durch den Einsatz von alternativen Zusatzstoffen kontinuierlich gesenkt werden. Trotzdem verursacht die Herstellung von Klinker immer noch bis zu acht Prozent des weltweiten Kohlendioxidausstosses.

Mangel an Ersatzstoffen

Zementersatzstoffe, die den Klinkeranteil reduzieren, tragen massgeblich zu einer Reduktion des CO2-Ausstosses bei. Die Nachfrage nach diesen Materialien ist sehr gross, da die Bauindustrie ihren CO2-Fussabdruck reduzieren will und muss. Sika geht deshalb davon aus, dass sich das Marktvolumen für sogenannte Supplementary Cementitious Materials – kurz SCM – von 2022 bis 2030 auf ungefähr CHF 37 Milliarden verdoppeln wird. Die Herausforderung dabei ist, dass SCMs momentan nur begrenzt in ausreichender Qualität verfügbar sind. Sika forscht deshalb intensiv an neuen Additiven und Betonzusatzmitteln, die den Einsatz verschiedener SCMs ermöglichen, mit denen der Klinkergehalt im Zement reduziert werden kann. “Als Marktführer stehen wir in der Verantwortung, Lösungen zur Klinkerreduktion in den Zementen und den vermehrten Einsatz von Ersatzstoffen voranzutreiben”, unterstreicht Evelyne Prat, Core Technology Head Cementitious Technology bei Sika.

Wie sind Sie in die Bauchemie gekommen? Was ist Ihr Hintergrund?

Ich komme aus der Kosmetik. Sie haben keine Ahnung, wie nahe sich Kosmetik und Mörtel sind. Es geht um Textur, Ästhetik und die ganzheitliche Erfahrung des Anwenders.

Warum sind zementfreie oder klinkerreduzierte Baustoffe so wichtig? Welche Vorteile haben sie für die Umwelt? Und gibt es weitere Nutzen?

Als ein Hauptbestandteil von Zement ist Klinker – neben Stahl – der grösste Verursacher von CO2-Emissionen in der Bauindustrie. Klinker ist für den weltweiten Ausstoss von 2.1 Gigatonnen Kohlendioxid pro Jahr verantwortlich. Daher muss Sika den Zementanteil in ihren Mörtelprodukten ersetzen und verringern. 
Dank unserer Erfahrung in der Formulierung von Mörtel- und Fugenmörtelprodukten können wir den Klinker durch sogenannte Supplementary Cementitious Materials – kurz SCM – substituieren. Dabei sind die neuen Lösungen sogar noch leistungsfähiger. 

Können Sie uns die Vorteile anhand spezifischer Sika Produkte näher erläutern – vielleicht mit einem Produkt, das Sie persönlich besonders begeistert?

In den letzten drei, vier Jahren haben wir etliche hochwertige Reparaturmörtel, Strukturprodukte für Reparaturen, Mörtel und Abdichtungsmembranen entwickelt. Dabei konnten wir den Zementanteil durch die Verwendung von SCMs um 25 bis 40 Prozent verringern. In jüngster Zeit hat Sika unter anderem hochwertige Reparaturmörtel wie SikaGrout®-800 und -3320 auf den Markt gebracht. Diese sind nicht nur nachhaltiger, sondern auch besonders leistungsfähig. Den Anwendern bieten sie ebenfalls Vorteile, denn die Produkte lassen sich besser verarbeiten, sind sicherer und besonders ästhetisch. Da sind wir wieder bei der Kosmetik: Die Person, die das Produkt anwendet, spürt den Unterschied. 

Wie steht es mit den Einsatzmöglichkeiten der zementfreien oder zementreduzierten Produkte? Gibt es Einschränkungen bei der Leistung, der Kombination mit bestimmten Materialien und Untergründen oder in Bezug auf das Klima oder die Gebäude, für die sie verwendet werden können? Inwiefern sind die neuen Produkte den herkömmlichen vielleicht sogar überlegen oder für neue, erweiterte Anwendungen geeignet?

Bezüglich des Untergrunds gibt es keine Einschränkungen. Unsere Aufgabe ist es zu gewährleisten, dass die Anwender das neue Produkt so verwenden können wie das bisherige und sogar bessere Ergebnisse erzielen. 

Zwar gibt es keine technischen Einschränkungen, aber die Formulierung dieser neuen Produkte ist schwieriger, weil sich die einzelnen Mörtelprodukte im frischen Zustand jeweils komplett unterschiedlich verhalten. Aber das ist unser Problem, nicht das der Kunden. Wir sind die “Köche”, die dem Rezept die richtige Menge “Salz und Pfeffer” hinzufügen müssen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. 

Mit Zement ist das einfacher als mit den neuen Ersatzstoffen, aber ein guter Koch erfüllt auch die höchsten Ansprüche seiner Gäste. Es ist kaum zu glauben, wie viel technisches Know-how sich in einem Sack Zement verbirgt

Dass es inzwischen immer mehr SCMs unterschiedlicher Qualität gibt, macht diese Aufgabe sicher nicht leichter, oder?

Genau. Es gibt nicht das eine Produkt für alles. Sie müssen die Formulierungen anpassen, denn die SCMs variieren je nach Standort.

Cashew fruit hanging on tree
Image: In der Elfenbeinküste hat Sika die Asche von Cashew-Schalen (im Bild ein Cashew-Baum mit Frucht) als Zementersatz entdeckt. Diese ersetzt einen Teil des Zements im Fliesenkleber SikaCeram®-80 CI.
Wie ersetzt man Zement? Welche Rolle spielen dabei die Additive und das Know-how von Sika?

Mörtel enthält mineralische Partikel und organische Stoffe, die miteinander reagieren. Setzt man statt Portlandzement ein SCM ein, ändert sich dieses Verhalten komplett. Man muss dann sozusagen das “Salz und Pfeffer” neu auf die veränderte Interaktion mit dem Bindemittel abstimmen. Es braucht viel Zeit, um das Verhalten des frischen Produkts, die Frühfestigkeit und die Endleistung zu definieren. Wir müssen alles verändern, damit für den Anwender alles gleich bleibt! 

Dank ihrer langjährigen Erfahrung in der Entwicklung und Formulierung unterschiedlichster bauchemischer Produkte ist Sika in der Lage, diese vielfältigen Anforderungen zu erfüllen.

Kann Sika vor allem deshalb Mörtel mit weniger oder sogar ganz ohne Portlandzement entwickeln?

Die Erfahrung ist eine grosse Hilfe. Unsere Mitarbeitenden kennen sich sehr gut mit organischen und mineralischen Stoffen aus und wissen daher, wie die einzelnen Komponenten miteinander reagieren und welchen Einfluss sie auf die Eigenschaften des frischen Endprodukts haben. Der Wissensaustausch beschränkt sich aber nicht nur auf die Forschung und Entwicklung von Sika. Wir arbeiten auch mit Universitäten zusammen, um die Hydratationsmechanismen der neuen SCM-Bindemittel mit organischen Molekülen zu verstehen.

Wie berücksichtigen Sie bei der Entwicklung neuer Produkte den Bedarf und die Präferenzen der Kunden?

Wir haben unterschiedliche Kunden mit unterschiedlichen Anforderungen. Bauunternehmen benötigen Produkte, die den Standards entsprechen und möglichst als nachhaltig zertifiziert sind. Sie bevorzugen leistungsfähige Produkte, die eine schnelle Instandsetzung ermöglichen. Anwender brauchen Produkte, die sich einfach, sicher und schnell anwenden lassen. Sie wollen möglichst ermüdungsfrei ihr Tagespensum schaffen. Die Endkunden – Sie und ich – wollen in einer sicheren Umgebung leben. Das bedeutet, dass die Produkte von Sika strengste Gesundheitsvorschriften und Richtlinien für die Reinhaltung von Wasser und Luft erfüllen müssen.

Asche von Cashew-Schalen als Zementersatz
Wie finden Sie heraus, was Ihre Kunden wünschen?

Unsere Abteilungen Forschung und Entwicklung, Marketing und Beschaffung arbeiten eng zusammen. Sie tauschen sich über die Anforderungen der Kunden aus, besuchen Baustellen, um sich über die Wünsche der Endkunden zu informieren, und führen schon in einem relativ frühen Entwicklungsstadium Versuche bei ausgewählten Kunden durch.

Mörtel sind ja normalerweise eher “lokale” Produkte: Sie werden vor Ort hergestellt und geliefert. Einige SCMs sind in allen Regionen verfügbar, andere nur lokal begrenzt. Wie gehen Sie in der Forschung und Entwicklung damit um? Wie koordinieren Sie diese Aktivitäten auf globaler, regionaler und lokaler Ebene?

Wir haben globale Technologiezentren und arbeiten in den mehr als 100 Ländern, in denen Sika aktiv ist, eng mit den Fachleuten zusammen, um die lokal entdeckten “Schätze” zu heben. Bei einer vielversprechenden Entdeckung prüfen wir, ob und wie sie sich auch in anderen Ländern anwenden lässt. Das ist ein sehr praxisorientierter Ansatz. Er stützt sich auf Netzwerke und die Zusammenarbeit mit anderen Funktionen wie Marketing und Beschaffung, damit ein Prototyp die Anforderungen des jeweiligen lokalen Marktes erfüllt.

Wie hat sich bei Sika das Geschäft mit zementfreien oder klinkerreduzierten Produkten in den letzten Jahren entwickelt? Wie sehen Sie die Zukunft?

Schon heute substituieren wir rund 14 Prozent des Zementanteils unserer gesamten Mörtelprodukte – in manchen Ländern sogar bis zu 33 Prozent.

Wir sind zuversichtlich, dass wir unser Ziel, diesen Anteil bei der nächsten Produktgeneration auf 50 Prozent zu steigern, in wenigen Jahren erreichen.

Können Sie beziffern, wie stark die Kohlendioxidemissionen dadurch sinken?

Bisher haben wir pro Jahr rund 210 Kilotonnen CO2 eingespart. Nach unserer Einschätzung ist eine weltweite Reduktion um 480 Kilotonnen bis 2025 realistisch.

Was würden Sie einem Kunden sagen, der den Wechsel zu einem zementfreien oder zementreduzierten Produkt erwägt?

Den Kunden, die einen Beitrag zur CO2-Reduktion leisten möchten, aber Leistungseinbussen durch Produkte mit einem geringeren Zementanteil befürchten, würde ich sagen: “Tun Sie es. Es gibt keine Nachteile. Im Gegenteil: Sie profitieren von besserer Verarbeitbarkeit und Langlebigkeit.”